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Referat:

von Gabriel Foco

Wien 1995

Über die "Erziehungspsychologie" von Reinhard Tausch und Anne-Marie Tausch.



Vorbemerkung zur Wissenschaftlichkeit:

Tausch & Tausch propagieren eine gefühlsorientierte Erziehung als die adäquate Methode der kontrollierten Persönlichkeitsentwicklung(1), die sich aber spätestens bei der Verallgemeinerung auf alle zwischenmenschlichen Beziehungen(2) als weltanschauungsorientierte Persönlichkeitsveränderung herausstellt. Der emotionelle Überhang verweist den Intellekt und Vernunftsschlüße auf die hinteren Ränge(3) und streift sie allenfalls als gelegentliche Begleiterscheinungen oder Hilfsmittel, die oft mehr schaden als nützen. Es wird zwar optional die Schlußfolgerung offen gelassen, wonach Vernunft und Intellekt in die Lernpsychologie gehörten und die Erziehungspsychologie sich der psychischen Seite zu widmen habe. Doch nach der vorausgesetzten gegenseitigen Abhängigkeit von Erziehung und Lernen(4) müßte aus der richtigen Erziehung die Förderung von Vernunftsaktivitäten resultieren. Tausch & Tausch stehen aber mit Vernunftsschlüssen so auffällig auf Kriegsfuß, daß ihr Bekenntnis zur gelebten Methode(5) die Wissenschaftlichkeit der Arbeit grundsätzlich in Frage stellt.

Ursächlich für die Konfusität dürfte die Unfähigkeit der beiden Autoren sein, auch nur annähernd exakt zu terminologisieren. So verwendeten sie schon in früheren Auflagen, die noch einigermaßen zu Recht den Anspruch auf Wissenschaftlichkeit erheben(6), die konkurrierenden Begriffe "Verstehen" und "Verständnis" fälschlich als Synonyme(7). In der nunmehrigen Auflage versuchen sie den Mangel an "Verständnis" durch einen überdimensionierten Terminus "einfühlendes nicht-wertendes Verstehen" zu kaschieren. Doch auch mit diesem (der Größe nach) rekordverdächtigen Terminus befinden sie sich auf Kollisionskurs zu ihren eigenen Grundsätzen, wonach ein wertfreies Beobachten dingunmöglich, weil selbst ein Werturteil wäre(8). Der nämliche Verständnisknoten um den Terminus des Verstehens wäre auch dann schon verhängnisvoll im Hinblick auf den Anspruch auf Wissenschaftlichkeit, wenn der Begriff nicht zentral im Gesamtaufbau der Thematik wäre, wie es in diesem Fall leider ist. Hieraus resultierend jagt ein terminologisches Ungetüm das nächste, so daß hier nach Möglichkeit Kurzformeln anstelle der überlangen Termini verwendet werden.

Bezeichnenderweise erhebt die neue Auflage der Erziehungspsychologie, im Gegensatz zu Früher(9), nirgends mehr den grundsätzlichen Anspruch auf Wissenschaftlichkeit, sondern beschränkt ausdrücklich die wissenschaftliche Methode auf die Überprüfung der Teilresultate, bzw. Hypothesen, da - nach Ansicht der zitierten Autoren - grundsätzlich keine wertfreie Aussagen möglich seien(10). Dieser Durchbruch ins Jenseits von Wissenschaftlichkeit, wonach angeblich ohne ein Wertesystem (d. h. Weltanschauung) nichts in der Forschung weiterginge, und vor allem kein wie immer geartetes Wertesystem hinterfragbar, sondern ausschließlich über die subjektive Überzeugung zugänglich sei, würde u. a. bedeuten, daß etwa der Rassenwahn als Wertesystem nicht hinterfragbar wäre. Tatsächlich aber versucht spätestens seit Kant jeder Populist seine Widersprüche zu transzendieren. Ausgehend von der gewillkürten Behauptung, daß Sachlichkeit nicht nur negativ, sondern geradezu die Kontradiktion der Aufrichtigkeit sei(11), behaupten nun allen ernstes Tausch & Tausch, daß die Sachlichkeit die Rassenideologie zum Sieg verholfen habe(12), so als hätte nicht die NS Propaganda die Emotionen geschürt (Hitler und die Seinen nannten sich zB "Trommler"), und nicht die extreme Emotionalisierung von widersprüchlichen Sachfragen deren Erfolg bedingt hätte. Der nämliche Gedankengang der Autoren gipfelt in der doktrinären Aussage, daß es keinerlei objektive Wahrheit gäbe(13). Demnach wäre 1 + 1 = 2 eine unzulässige (inhumane), weil objektive Aussage. Erbaulich human hingegen wäre zu "meinen", daß 1 + 1 = 2 sei.

So argumentieren Tausch & Tausch gegen den wissenschaftstheoretischen Grundsatz der möglichen Wertfreiheit damit, daß auch etwa in der Medizin das für Lebenswert-Halten des Lebens schon ein Werturteil voraussetzt, das wiederum unmöglich überprüfbar sei(14). Doch daran ist aber weniger die Wertigkeit des Lebens ersichtlich, sondern vielmehr die nämliche Unfähigkeit von Tausch & Tausch diesmal Fakten als solche von deren Wertung zu unterscheiden. Selbst wenn Fakten wirklich erst durch eine Wertung zu Fakten würden, so folgte noch nicht daraus die Umkehrbarkeit, so als müßten alle Wertungen zwangsläufig für Fakten gehalten werden. Die Leugnung (der objektiven Feststellbarkeit) einer wertfreien Faktizität(15) einerseits, und die Unterstreichung der zu beweisende Arbeitshypothese als ausschließliche Voraussetzung für eine Theorie(16) andererseits, lassen die Annahme der wissenschaftlichen Ernsthaftigkeit bei Tausch & Tausch nicht zu. Die Arbeit von Tausch & Tausch dient nicht der wissenschaftlichen Wahrheitsfindung und Verarbeitung, sondern wird die Wissenschaft als Hilfe für die vertretene Weltanschauung (als aprioristisches Wertesystem verklausuliert) bedient. Dem ist hinzuzufügen, daß Tausch & Tausch zwar die Herleitung der Theorie auch von der experimentellen Seite her dergestalt zu rekonstruieren suchen, diese Bemühungen aber mit der Deklarierung des Forschungsziels als grundwertorientiert(17), ad absurdum führen.

Grundidee der Erziehungspsychologie:

Abgrenzend gegenüber der Lernpsychologie hat die Erziehungspsychologie die durch Kommunikation (Lernprozeß) bedingten psychischen Vorgänge zum Gegenstand. Die Erziehungspsychologie geht von der Priorität des Reifungsprozesses (Persönlichkeitsentwicklung) gegenüber dem Lernprozeß (insb. bei Jugendlichen) und von der gegenseitigen Bedingtheit von Lern- und Entwicklungsprozeß aus. Dabei wird eine sach- und fachgerechte Einflußnahme nicht nur als unumgänglich, sondern als unerläßlich angesehen. Leider übergehen Tausch & Tausch geflissentlich die zentrale Rolle einer Autoritätsperson als die unabdingbare Voraussetzung jedweder antiautoritären Erziehung. Sie verwechseln die katalysierende Funktion der Autorität mit deren Abwesenheit oder "Transzendenz".

So wie die Kernaussage eines jeden literarischen Werks zumeist in einem Satz zusammenfassen läßt, so kann hier Erziehungspsychologie nach Tausch & Tausch in dem einem Wort "Verständnis" (einfühlendes nicht-wertendes verstehen), als das "Annehmen" des Gegenüber(18) (von Person zu Person), zusammengefaßt werden. Denn die übrigen drei "förderlichen Dimensionen"(19) bei Tausch & Tausch, nämlich Respekt (Achtung-Wärme-Rücksichtnahme), Aufrichtigkeit (Echtheit-Übereinstimmung-Aufrichtigkeit) und Entgegenkommen (viele fördernde nichtdirigierende Tätigkeiten), lediglich Teilaspekte, und als solche jeweils integrierender Bestandteil vom wohlverstandenen Verständnis sind.

Die Fragestellungen beeinflussende Wertauffassungen(20):

Ausgehend von der - aufgrund weltanschaulicher Orientierung als Wertesystem - aprioristisch vorausgesetzten Notwendigkeit, von und für die Persönlichkeitsveränderung leben zu müssen, erfassen die hier kritisch hinterfragten Autoren (Tausch & Tausch) die Erziehungspsychologie strukturell, vor dem Hintergrund der 4 psychosozialen Grundwerte, als die 4 förderlichen Dimensionen des Zusammenlebens. Ein Leitgedanke ist die Reversibilität (soziale Umkehrbarkeit), wonach ein befriedigendes Zusammenleben dann gegeben sei, wenn eine Person gegenüber anderen Personen so handelt, als wäre sie die andere Person. Die Autoren wollen von der Ethik Albert Schweitzers beeinflußt worden sein(21), wozu einiges zu sagen wäre, doch ein näheres Eingehen auf diese Frage würde den Rahmen des Referats sprengen. Soviel allerdings kann in einem Satz zusammengefaßt festgehalten werden, daß die Umdeutung von Rollentausch in Persönlichkeitstausch, aus der Warte der herkömmlichen Seelenkunde wie eine Perversion der Entwicklungspsychologie, bzw. als künstliche, oder "therapeutisch angewandte" Schizophrenie anmute.

I. Persönlichkeitscharakteristika als Ziele der Erziehung.

Obwohl Gründe gegen die versuchte Bestimmung der Ziele der Erziehung bei Tausch & Tusch sprächen, wie die sich dadurch auftuende Diskrepanz zwischen Theorie und Praxis, die den Erzieher in der Regel (in mehrfacher Hinsicht) überfordern kann, wird - teilweise in engem Anschluß an Rogers(22) - eine Auflistung von Persönlichkeitscharakteristika und Handlungseigenschaften als Bedeutsam für die Ziele in Erziehung und Unterricht dargestellt: Sozialintegration, Eigenverantwortung, Reversibilität (den anderen wie sich "selbst" behandeln), kooperative Motivation, Vorbildlichkeit, Aufmerksamkeit (Einfühlsamkeit), Gelehrsamkeit, Kreativität, Gewaltlosigkeit, kritische Distanz, Kommunikation, Flexibilität und schließlich ein endliches Lebenskonzept(23).

II. Psychosoziale Grundwerte des allgemeinen, zwischenmenschlichen Zusammenlebens als Werte und Leitlinien der Tätigkeit von Erziehern.

Die permanente Vergegenwärtigung der 4 Grundwerte (Selbstbestimmung; Achtung der Person; Förderung der seelischen und körperlichen Funktions- und Leistungsfähigkeit; soziale Ordnung) - durch "Erfahren" und "Erfahren-Lassen" - schließt weitgehend inhumanes Verhalten aus, so Tusch & Tausch, so daß in der Folge der Begriff der "Erziehung" entbehrlich wird(24).

1.) Grundwert Selbstbestimmung: Das Freisein von inneren und äußeren Zwängen wirkt sich auch auf andere als befreiend aus. Die ideale Freiheit ist nur durch die drei anderen Grundwerte beschränkt und fördert nichtdirigistische (antiautoritäre) Strukturen und Vorgänge(25).

2.) Grundwert Achtung der Person: Die Würde der Person wird auch als die Gleichheit bei der Bedürfnisbefriedigung verstanden, und zwar unabhängig vom Alter, Sozialstatus, Beruf oder Rasse. Einkommensunterschiede sind verpönt und die Arbeit allein, die alle gleich macht, legitimiert. Verwerflich sind die Einkommensunterschiede bei Werktätigen und Schreibtischarbeit(26).

3.) Grundwert Förderung der seelischen und körperlichen Funktions- und Leistungsfähigkeit: Freiheit und Selbstbestimmung sind durch Funktionstüchtigkeit bedingt, aus der allein Mitarbeit und somit Mitverantwortung entsprechend resultieren kann. Förderungswürdige Funktions- und Leistungsfähigkeit ist sonach:

Selbstachtung und günstiges Selbstkonzept, Offensein für das eigene Erleben und aktive Auseinandersetzung damit.

Funktionsfähigkeit zu befriedigenden und förderlichen zwischenmenschlichen Beziehungen, charakterisiert durch 3 der 4 Dimensionen (Achtung-Wärme, einfühlendes Verstehen sowie Echtheit).

Beruflich fachliche Kompetenz.

Nicht als förderlich ist anzusehen: ca. 40-60 % der Unterrichtsinhalte, unbegründete Wertentscheidungen, die Art des Leistungsnachweises, mangelnde Selbstbestimmung der Lernenden, zu wenig Körperbewußtsein, unkritischer Traditionalismus u. a.

4.) Grundwert soziale Ordnung: Die Gesamtheit der Grundwerte ergibt eine funktionierende soziale Ordnung, die im Idealfall ohne (Ausübung der) Autorität auskommt(27). Das Funktionieren der sozialen Ordnung ist eine Frage der Erziehung, wobei allerdings im Idealfall der Begriff der Erziehung selbst, wie schon gesagt, entbehrlich wird.

III. Seelische Grundvorgänge (Prozeßqualitäten) bei Kindern und Jugendlichen als Werte der Erziehung und des Zusammenlebens.

Zum - auf den Abschluß - zielgerichteten Lernprozeß parallel laufen auf die Persönlichkeitsentwicklung gerichteten emotionellen Prozesse. Die beiden stehen in einer ständigen Wechselwirkung zueinander, wobei der Lernprozeß zwar im Vordergrund steht, aber nur um die Persönlichkeitsentwicklung gleichsam zu ventilieren. Das Erlernte wird (als Kompetenz) integrierender Bestandteil der ausgereiften Persönlichkeit. Zu den (psychischen) Grundvorgängen: Selbstachtung, Selbstbewußtsein, Aufgeschlossenheit, kommen die förderliche Grundhaltungen: Respekt (Achtung-Wärme-Rücksichtnahme), Verständnis (Einfühlendes Verstehen), Aufrichtigkeit (Echtheit-Fassadenfreiheit), Entgegenkommen (fördernde nicht-dirigierende Tätigkeiten). In der nachstehenden Tabelle werden die förderliche Grundhaltungen, bzw. 4 förderlichen Dimensionen, den 4 nichtförderlichen Dimensionen gegenübergestellt(28).


Mißachtung-Kälte-Härte * Achtung-Wärme-Rücksichtnahme


Kein einfühlendes Verstehen * Vollständiges einfühlendes Verstehen


Fassadenhaftigkeit-Nichtübereinstimmung-Unechtheit * Echtheit-Übereinstimmung-

Aufrichtigkeit


Keine fördernde nichtdirigierenden Tätigkeiten * Viele fördernde nichtdirigierende

Tätigkeiten


Die 3 Dimensionen Achtung-Wärme, einfühlendes Verstehen sowie Echtheit, wurden von Carl Rogers (1957) entwickelt und gelten in einschlägigen Kreisen als Orientierungsgröße(29). Die von Rogers konzipierten Dimensionen wurden von Tausch & Tausch in der Form von sogenannten Skalen(30) (Einschätzungsskalen) näher definiert und zusätzlich mit einer vierten Dimension, fördernde nicht-dirigierende Tätigkeit, ergänzt. Die Kontinuität der Vorgänge und Haltungen ist unerläßlich - und gegebenfalls der Garant - für die Persönlichkeitsentwicklung(31). Werden die von Rogers entwickelten 3 Dimensionen sehr weit gefaßt und gelebt, dann schließen sie die 4. Dimension des Entgegenkommens (fördernde nicht-dirigierende Tätigkeit) mit ein.

Umfangreiche Versuchsserien zeigten die Allgemeingültigkeit der 4 Dimensionen der förderlichen zwischenmenschlichen Beziehungen(32). Untersucht wurden Lehrer(33), Kindergärtnerinnen(34), Eltern(35), psychotherapeutischen Helfer(36). Auch in der Kinderpsychiatrie wurden Rogers Annahmen mit positivem Erfolg geprüft(37). In den letzten Jahrzehnten der Entwicklung der humanistischen Psychologie (Erziehungspsychologie) sind allerdings einzelne Zwischenstufen überholt worden.

Einzelmerkmale: Es habe sich gezeigt, daß nur eine ganzheitliche Betrachtung zielführend sei, und so wurden die früher ausgedehnte Untersuchungen über beeinträchtigende Einzelmerkmale als nicht vorteilhaft eingestellt(38).

Faktoren: Die Faktoren genannten Merkmalverbände aus Einzelmerkmalen(39), Emotionaler Faktor, Faktor Dirigierung-Lenkung, Faktor engagierte Aktivität, Faktor fachliche Kompetenz, sind auch nicht unproblematisch, da die Zusammenfassung mehr nach äußeren als nach inneren Kriterien erfolgt(40). So ist etwa eine überdimensionierte fachliche Kompetenz oft mit Mängeln bei anderen förderlichen Faktoren kompensiert(41).

Typen: In früheren Jahrzehnten erlangte die meiste Beachtung das Typenkonzept: sozialintegrativ, autokratisch (autoritär) und laissez-fair (nachgiebig). Gegenüber den 4 Dimensionen erschien das Typenkonzept als zu ungenau insb. in Hinblick auf emotionelles und lenkendes Verhalten, und das Verstehen und die Echtheit als förderliche Haltungen fehlten(42).

Die förderlichen Dimensionen:

1.) Achtung-Wärme-Rücksichtnahme: Als Erfahrung fördert sie die seelische Funktionsfähigkeit und Gesundheit, Selbstachtung, günstiges Selbstkonzept, (pro)soziales Verhalten und auch die kognitiven Prozesse bei Schülern(43). Nach Rogers kommt es in einer Beziehung auf das volle Angenommensein an, auf die Akzeptanz (Respekt), was nicht mit Billigung zu verwechseln ist(44). Auf diesem Gebiet habe die Menschheit noch einen enormen Nachholbedarf(45). Ein konkretes Grundübel sei sonach, daß sich Erwachsene für Jugendliche verantwortlich fühlen, womit sie sich völlig überfordern, weil jede nur für sich selbst verantwortlich sein könne(46). Die Verhaltenheit gegenüber diesen Einsichten rächte sich als Eskalation des Negativen(47), während das Annehmen der "Annahme" alles zum besseren wende. Und das in allen Berufsgruppen und Lebenslagen(48). Auch in Tierexperimenten konnte der Erfolg nachgewiesen werden, indem etwa zuvor mit Zuwendung behandelte Ratten die anschließende Vergiftung um einige Stunden länger überlebt haben als "konservative" Ratten(49). So die Studie.

2.) Einfühlendes nicht-wertendes Verstehen: Rogers (1973a, S. 427) meint: "Der beste Ausgangspunkt zum Verständnis des Verhaltens ist das innere Bezugssystem des Individuums selbst"(50), das wiederum ein (nicht hinterfragbares) Wertesystem ist(51). Die Reflexion darüber, wie nun auf ein Wertesystem bezogen ein nicht-wertendes Verstehen stattfinden soll, erscheint in diesem Zusammenhang wohl als zu "sachlich"(52), und ist daher als Störend (nicht fördernd) im Hinblick auf die angestrebte Persönlichkeitsveränderung einzustufen(53), wenn man Rogers ernstzunehmen versuchte. Ansonsten erfährt eine Person nach Rogers die enorme Kraft in sich, mit der sie den anderen in seiner Persönlichkeitsentwicklung beeinflussen (fördern) kann(54).

3.) Echtheit-Fassadenfreiheit-innerer Übereinstimmung: Meint die Kongruenz von innerem Erleben und Äußerung im Sinne von Offenheit(55), wobei die gleiche Offenheit auch in die Gegenrichtung (beim Verstehen, Annehmen) zu gelten hat(56). Natürlichkeit hat auch bei Pastoren in religiösen Fernsehsendungen die Zustimmung und das Interesse der Zuschauer gefördert(57). Fassadenfreie Personen sind sonach integrierter, seelisch funktionsfähiger, erfahren große Befriedigung in einer Begegnung(58), können aber von unterentwickelten Persönlichkeiten als negativ empfunden werden(59). So können etwa die Anhänger der "Sachlichkeit"(60) die Unmöglichkeit von "objektiven Wahrheiten" nicht einsehen(61), und sind aufgrund ihrer Unfähigkeit die ausschließliche Möglichkeit von subjektiven Meinungen anzuerkennen, als amputierte Persönlichkeiten anzusehen(62). Durch personenzentrische (subjektivistische) Aussagen und auch Handlungen werden häufig Fehler vermieden, und durch "sachliche" Aussagen Fehler gemacht(63).

4.) Nicht dirigierende Einzeltätigkeiten: Alle aus dem kontinuierlichen Einklang der 3 anderen Dimensionen entspringenden Handlungen sind im Grunde nicht-dirigierende Einzeltätigkeiten(64). Sonach sollten fördernde Einzeltätigkeiten theoretisch gar nicht mehr gesondert angeführt werden(65), in der Praxis allerdings können Sie so manche Situation ausbalancieren helfen. Nachdem sonach ohnehin jeder Kontakt vorweg als Einflußnahme anzusehen ist(66), kann - in diesem Sinne - durch die hier empfohlene Einflußnahme die wachsende Fähigkeit beider Teile zu weiteren Einflußnahme angenommen werden(67).

Zusammenfassung:

Die Vereinnahmung alles Gefühlsmäßigen erlaubt es der humanistischen Psychologie zwar sich mit fremden Federn zu schmücken, die methodische Einkreisung der "Nächstenliebe" durch 4 Grundwerte und 4 Dimensionen erlaubt jedoch noch nicht die zwingende Annahme der Verfügbarkeit derselben, am wenigsten durch die als "Erziehungspsychologie" etikettierte Lehre von der Persönlichkeitsveränderung. Im übrigen bedingt die Kultivierung - oder auch nur Überbewertung - der emotionellen Seite eine kaum kontrollierbare Abhängigkeit(68), wenn nicht gar Verstrickung in dieselbe Emotionalität. Jede verabsolutierte Teilwahrheit ist sektiererisch, auch und gerade dann, wenn die nämliche Teilwahrheit im Gesamtzusammenhang als Teil und integrierender Bestandteil unabdingbar ist. Problematisch ist auch die kategorische Leugnung der Verantwortung in der Humanistischen Psychologie, etwa des Lehrers gegenüber dem Schüler, was wohl mit der Leugnung der Autorität zusammenhängt. Eine Erziehung eines Erziehers, der sich nur an sich selbst orientiert, bzw. sich selbst und alles andere immer nur auf "sich selbst bezieht", ist unverantwortlich. Eine auf sich selbst bezogene Zuwendung ist ebenso ein Nonsens, wie eine aus einem Wertesystem - mit dem oberster Prinzip der Unmöglichkeit der Wertefreiheit - abgeleiteter Grundhaltung des "nichtwertenden Verstehens".

Exkurs: Humanistische Psychologie.

Schon bei der Manifestation des sog. Psychobooms(69) in den 70ern ist als der gemeinsame Hintergrund dieses Auswucherns(70) die in den 50ern in den USA aufgekommene "humanistische Psychologie" festgestellt worden. Es sei sogleich betont, daß die Antriebe und Motivlagen derer, die einst die humanistische Psychologie entwickelten (u. a. Abraham Maslow, Charlotte Bühler), nicht mit den mitunter erbärmlichen Folgeerscheinungen danach gleichgesetzt werden können. Trotzdem ist festzuhalten, daß schon von den einigermaßen seriösen Anfängen an reichte die humanistische Psychologie über den professionell-ärztlichen Rahmen hinaus(71) und stand im Widerspruch zu den herrschenden Konzepten der Psychotherapie (Psychoanalyse und Behaviourismus). Ihr Pathos war es, in einem dritten Weg, eine humane, d. h. dem Wesen des Menschen gemäße Weise Seelenheilung zu finden. Man muß sich also vor Augen halten, um sich ein Verstehen der Antriebe und Motivlagen der Anhänger humanistischer Psychologie zu sichern: Weltanschauungstendenzen und Muster der Weltauslegung stehen an der Wiege der humanistischen Psychologie, und sind in ihr bis heute bestimmend.

Die Anhänger bemühen sich um eine Metapsychologie, oder sog. Lebensphilosophie, welche die herkömmlichen Grenzen überschreitet. Ob es sich handelt um existenzphilosophische Einflüsse (Sartre, Heidegger, Camus), um Elemente der Gesellschaftskritik Herbert Markuses, R. D. Laings oder der Frankfurter Schule, oder um östlicher, vor allem indischer Weltauslegungen, oder um ein Amalgam verschiedenster Ideenströme, immer ist Humanistische Psychologie, quer durch ihre Schulen und Ausprägungen, eingebunden in eine weltanschauliche Dimension(72). Sie ist von ihren Anfängen an mehr als eine Methode der Therapie, sie versteht sich als Sinnangebot an den modernen Menschen, und so wird sie auch rezipiert.

In der Humanistischen Psychologie begegnet uns eine Form säkularen Glaubens. Doch nicht nur als Gegenantwort zu Materialismus und Atheismus versteht sich humanistische Psychologie, sondern auch als Erbin und Überwinderin der "Widersprüche" christlichen Glaubens. So kann Psychologie zum neuen Erlöser, zur neuen Kirche werden(73). Die äußeren Hauptmerkmale der neuen Psychologie sind zunächst der radikale Subjektivismus und die damit verbundene Suche und Verwirklichung des "Selbst" (Person). Dabei ist weniger von Bedeutung, ob die überwältigende Einsicht, sein eigener Gott zu sein, offen bekannt wird oder nicht(74). Weil der (neue) Mensch von Natur aus gut sei, so die humanistische Psychologie, kann er alles Böse als potentielle Vitalität erfassen und umsetzen(75), bzw. auf den "neuen Menschen" hinordnen.

Unter den zeitgenössischen humanistischen Psychologen in den 90ern ist der von Tausch & Tausch in allen Grundlegenden Fragen als Vorbild zitierte Carl Rogers der Favorit(76). Der gleiche Rogers ist auch der geistige Vater u. a. des Grundsatzprogramms der Ökologisch-Demokratischen Partei (ÖDP) Deutschlands und seines Chefs, Gruhl, die dem durch materialistischer Anschauungen drohendem Weltuntergang entgegenwirken wollen(77). Insgesamt sucht die Bewegung um die Humanistische Psychologie aus liberalen Elementen der Gesellschaftskritik eine "ideale Utopie" in eine "machbare Utopie" der Psychologen umzumünzen(78). Dies geht mit der Abwendung von der Gesellschaft und Hinwendung zum Individuum einher. Die altliberale "Tat" in der romantischen Privatheit wird zur Maxime, da Theorien, so das neoliberale Doktrin, nichts bewirken können. Irgendwann wird schon die Saat der kommunikativen Gesellschaft aufgehen, so die Psychobewegung, zumal die partikularen persönlichen Betroffenheiten mit der Lehre von Rogers sodann gebündelt und politisch kanalisiert werden können(79).

Um die Lehren von Rogers hat sich auch eine neuere Seelsorgebewegung entwickelt(80). Die Adaptierung der humanistischen Psychologie (namentlich die von Rogers) in die Seelsorge soll etwa (so auch in Wien) durch die Annahme gerechtfertigt sein, daß so wie Jesus die Sünder voll annahm, so kann, wie etwa schon Tillich - ähnlich Rogers - sinngemäß meinte, nunmehr die Annahme durch den humanistischen Therapeuten als Heil erfahren werden(81). Das Evangelium muß sonach - via interpersonaler Begegnung - erfahrbar gemacht werden(82). So kam es, daß andersdenkenden Theologen "Erfahrung" zum Reizwort geworden ist, weil sie ihrerseits schlechte Erfahrungen mit der "Erfahrung" hatten.

Nachtrag: Human-Potential-Bewegung.

Hans Jürgen Ruppert hat bereits 1987 darauf hingewiesen, daß "Humanistische Psychologie", neben der "Gestalttherapie" Fritz Perls und der "Bioenergetik" Alexander Lowens, besser unter dem Namen "Human-Potential-Bewegung" bekannt, eine Säule der (okkult/esoterisch) neugnostischen "New-Age-Bewegung" ist, und als solche weit über die "Alternativszene" hinaus auch die "etablierten Kreise" der westlichen Gesellschaften erreicht hat(83). Zu bemerken ist, daß Küenzlen in dem Oberbegriff "Humanistische Psychologie" auch "Gestalttherapie" und "Bioenergetik" mit inbegriffen weiß, und den Begriff "Human-Potential-Bewegung" nicht verwendet, während Ruppert "Humanistische Psychologie", "Gestalttherapie" und "Bioenergetik" als Teile der "Human-Potential-Bewegung" ansieht. Auch wenn Küenzlen den Begriff "Human-Potential-Bewegung" nicht verwendet, gebraucht er den Begriff "Humanistische Psychologie" offensichtlich synonym. Ob nun die "Human-Potential-Bewegung" als Teil oder Vorläufer der "Humanistische Psychologie" anzusehen ist, oder umgekehrt, die Begriffsinhalte überlappen sich weitestgehend. Die auch von Tausch & Tausch begrüßten "encounter" (Gruppen) gehören zu der "Human-Potential-Bewegung", die manchmal geradezu synonym zu "New-Age-Bewegung" verwendet wird(84), die sich auch als das "Zeitalter des Bewußtseins" versteht. Man kann also festhalten, daß "Humanistische Psychologie" soetwas wie die Esoterik der gehobenen Kreise geworden ist, die Sonnenseite von New Age(85) (Neugnosis, dessen weltliche Arm als Neoliberalismus bekannt ist).

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FUSSNOTEN:

1. Tausch R. und Tausch A., Erziehungspsychologie, Begegnung von Person zu Person, Göttingen 1979, S. 7.

2. Tausch (1979), S. 11, 102, 114 ff.

3. Tausch (1979), S. 12.

4. Tausch (1979), S. 103 ff., 114.

5. Tausch (1979), S. 16.

6. Tausch (1965), S. X. f., 5.

7. Tausch (1965), S. 257-272.

8. Tausch (1979), S. 18.

9. Tausch (1965), S. X. f., 5.

10. Tausch (1979), S. 18.

11. Tausch (1979), S. 239.

12. Tausch (1979), S. 240.

13. Tausch (1979), S. 241.

14. Tausch (1979), S. 17 f.

15. Vgl. Tausch (1979), S. 240.

16. vgl. Tausch (1979), S. 14 ff.

17. Tausch (1979), S. 16 ff.

18. Vgl. Tausch (1979), S. 130.

19. Tausch (1979), S. 100.

20. Tausch (1979), S. 18 ff.

21. Tausch (1979), S. 26.

22. Rogers, (1951) S. 387.

23. Tausch (1979), S. 19 f.

24. Tausch (1979), S. 20.

25. Tausch (1979), S. 21.

26. Tausch (1979), S. 22.

27. Tausch (1979), S. 25.

28. Tausch (1979), S. 100 f.

29. Tausch (1979), S. 101.

30. Siehe Anhang!

31. Tausch (1979), S. 26 f., 101, 111 ff.

32. Tausch (1979), S. 103 ff.

33. Tausch (1979), S. 103 ff.

34. Tausch (1979), S. 105.

35. Tausch (1979), S. 105 f.

36. Tausch (1979), S. 106 f.

37. Tausch (1979), S. 107.

38. Tausch (1979), S. 108.

39. Tausch (1979), S. 108 ff.

40. Tausch (1979), S. 109.

41. Tausch (1979), S. 110.

42. Tausch (1979), S. 110 f.

43. Tausch (1979), S. 118.

44. Tausch (1979), S. 130.

45. Tausch (1979), S. 133.

46. Tausch (1979), S. 142.

47. Tausch (1979), S. 144 ff.

48. Tausch (1979), S. 146 ff.

49. Tausch (1979), S. 157.

50. Tausch (1979), S. 178.

51. Tausch (1979), S. 17 ff.

52. Tausch (1979), S. 239 ff.

53. Vgl. Tausch (1979), S. 186.

54. Tausch (1979), S. 190.

55. Tausch (1979), S. 214 ff.

56. Tausch (1979), S. 221.

57. Tausch (1979), S. 229.

58. Tausch (1979), S. 232 f.

59. Tausch (1979), S. 234 ff.

60. Tausch (1979), S. 239 ff.

61. Tausch (1979), S. 241.

62. Tausch (1979), S. 239.

63. Tausch (1979), S. 241.

64. Tausch (1979), S. 242 ff.

65. Tausch (1979), S. 245.

66. Tausch (1979), S. 246.

67. Tausch (1979), S. 253.

68. Vgl. Miller Alice, Das Drama des begabten Kindes und die Suche nach dem wahren Selbst, Frankfurt 1994, S. 26 f.

69. Küenzlen Gottfried, Humanistische Psychologie, Psychoboom und Weltanschauung, Referat, gehalten am 23. 11. 1983 in Salzburg, in Dokumentation 1/85, Hrsg. (kath.) Referat für Weltanschauungsfragen, S. 3 ff.: Der Autor (Referent) war von der Evangelische Zentralstelle für weltanschauungsfragen, Stuttgart.

70. Küenzlen, S. 3 f.: Psychoanalyse, Selbstanalyse, Psychodrama, Urschreitherapie, Gestalttherapie, Transaktionale Analyse, Hypnose, Selbsthypnose, Bioenergetik, Rolfing, Konzentrationstraining, Autogenes Training, Encountergruppen, Marathongruppen, Sexualtherapie, sinnliche Erweiterung, Aggressionstraining, Realitätstherapie, rational-emotionale Therapie, Reinkarnationstherapie, Yoga, Tai Chi Chuan, Astrologie, Scientology, Bewußtseinserweiterung, Transzendentale Meditation, Zenbuddhismus, Tantra, Transpersonale Mentalenergetik, Rebirthing ... usw.

71. Küenzlen, S. 4, 10.

72. Küenzlen, S. 4 f.

73. Küenzlen, S. 11.

74. Küenzlen, S. 12; Tausch (1979), S. 11: Das Ziel jeder Förderung ist auch bei Tausch & Tausch "sich selbst zu verwirklichen".

75. Küenzlen, S. 14.

76. Küenzlen, S. 5.

77. Vogel Albert-Ludwig, Das Politische bei Carl R. Rogers, Frankfurt 1989, S. 333 f.

78. Vogel, S. 342.

79. Vogel, S. 343.

80. Schleinzer Cornelia Maria, Die Bedeutung des klientenzentrierten Ansatzes von Carl Rogers für die neuere Seelsorgebewegung, Diplomarbeit, Wien 1990, S. 1 ff.

81. Schleinzer, S. 56 (vgl. S. 51 ff.).

82. Schleinzer, S. 57.

83. In: Dokumentation 3-4/87, Hrsg. vom Referat für Weltanschauungsfragen, S. 26 ff.

84. Cumbey Constance, Die sanfte Verführung, Asslar 1983, S. 179, 193: Begriffe wie "Humanistische Manifest" oder "christliche Humanismus" sind um so Teil des ständigen Repertoires von New Age, weil etwa mit Letzterem zum Ausdruck kommen soll, daß das Gemeinte mehr "humanistisch" als "christlich" ist.

85. Cumbey, S. 161-169: New Age gehört zu den bekennenden luziferischen Bewegungen.